Als die Netzkultur der 90er die Konzern-Oligarchie der 2010er möglich machte
1996: Als das Internet bereits Mainstream wurde, die Dotcom-Blase wuchs und jeder, der etwas auf sich hielt, »im Netz« war, führte Jon Lebkowsky mit jenem Mann ein Gespräch, der da längst als brillanter wie exzentrischer Vordenker einer wahrhaft revolutionären Internet-Kultur galt: R. U. Sirius, der Name ist Programm. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits seine Redakteurs-Posten bei den beiden Sprachrohren für Cyberkultur (damals noch ein Begriff, der ernst genommen wurde), Mondo 2000 und Wired, aufgegeben um fortan selbständig seine Einschätzungen, Prognosen und vor allem streitbaren Forderungen abzugeben.
Lebkowsky und Sirius sprechen also Mitte der Neunziger zunächst in einigen Anekdoten über die Vergangenheit bei beiden Magazinen, werden aber schließlich in der zweiten Hälfte des Interviews deutlicher. Sirius geht mit seinen Genossen und Bewunderern scharf ins Gericht, wenn er ihnen Desinteresse am akzelerierten Kapitalismus der 90er und der Vorherrschaft der Murdochs, Bloombergs und Redstones vorwirft und bemerkt, dass dieselbe Cyberkultur in ihrem Wahn nach Technisierung die Abschiebung des Arbeiters ins Lumpenproletariat beförderte.
Was damals wie eine aus der Luft gegriffene Behauptung gewirkt haben muss, eine ziemlich kühne zumal, ist spätestens zehn Jahre später die bittere Realität: Multinationale Konzerne bedienen sich der Rhetorik einer einst avantgardistischen Netz-Intelligenzija, sowie derselben Technologien, welche diese Early Adopters populär machten, um der Atomisierung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Verdrängung weiter Bevölkerungsteile in äußerst frei wirkende, aber doch insgeheim sehr prekäre Formen der modernen Arbeit und schließlich den sozialen Abstieg Vorschub zu leisten. Und das alles im Namen der Innovation, dem Verlangen nach einer wahren Revolution, dem glimmenden Anarchismus einer wenig später in Occupy-Mummenschanz aufgehenden Generation von Digital Natives.
Sirius stellt diese These in äußerst kompakter Form auf, überschlägt sich auch bisweilen, behält aber das Ziel im Auge. Er rechnet ab mit den Geistern, die er und andere einst riefen, und hat den zukünftigen Kampf fest im Blick: »Give me one million fucking dollars and I’ll bring you major cultural and political change within four years.«