Schon so manch ein Wanderer ist auf seinen stillen Pfaden durch Wald und Flur, Gebirge und Geröll sonderbaren Dingen begegnet, die sich ganz seiner Urteilskraft entzogen. Mit ein wenig Glück kann man auch in den Bergen Südtirols einen merkwürdigen Fremdkörper fast monolithischer Erhabenheit entdecken, ringsum eigentümliche Ereignisse, verdächtige Vorgänge beobachten, ja –, ja wenn man eben ein wenig Glück hat. Denn dieser mannshohe, würfelförmige Findling, von dem hier die Rede ist, weiß sich gut zu tarnen: Allseitig verspiegelt wird er eins mit der Landschaft, fügt sich spielend in jede Szenerie ein, schirmt sich auf diese Weise aber auch kaum erkenntlich von seiner Umwelt ab. Lediglich die kleinen Verzerrungen, die das sonst so perfekte Mimikry an seinen Kanten und Oberflächen in geringe, aber doch sichtbare Turbulenzen stürzen, können einen leisen Hinweis darauf geben, daß darin etwas sein muss, das lieber im Geheimen verborgen bleibt.
Eine genauere Untersuchung wird schnell ergeben, daß aus dem Inneren des perfekten Kubus nicht nur leise Geräusche dringen, sondern auch, daß an einer seiner Seiten eine Linse angebracht ist. Wer sich nun aber zu sehr nähert und einen Blick in das dunkle Glas wagt, wird sogleich den Zorn des Kubus auf sich ziehen, oder viel eher, der Leute, die sich in ihm verstecken. Denn der Spiegelwürfel ist eine Camera obscura in Übergröße, seine Insassen Fotografen, die hier wie Naturbeobachter im Geheimen operieren.
Andrea Pizzini und Christian Martinelli haben den Koloss allein zu dem Zweck erdacht und erbaut, lebensgroße Fotografien – ein mal ein Meter groß – ohne den Einsatz üblicher Vergrößerungsmethoden zu erstellen. Jedes Abbild sollte ein Unikat sein, ein unverfälschter, einmaliger Eindruck der Natur. Ganz so, wie es der alte Traum der Fotografie war: als unbestechlicher Beobachter die Welt fest im Blick haben, dazu mithilfe der Apparatur eine unüberwindbare Scheidewand zu errichten, die gleichzeitig unmittelbare Nähe und größte Distanz ermöglicht. Ihr Kubus sollte diesen Traum erfüllen, sollte als mobiles Instrument in ganz Europa Landschaften und Städte gleichermaßen im Bild bannen. Unter dem Namen “Cubestories” bereisen sie seit 2010 ihre Heimat Südtirol und von dort aus den Kontinent, um mit ihren Bildern Geschichten von Orten und Menschen zu erzählen, die bald verschwinden werden. So dokumentieren sie Gletscher, Gebirgsseen und Geisterstädte und konservieren sie für die Nachwelt.
Als Kubus und Fotos im vergangenen Jahr nach Berlin kamen, um auch das Tempelhofer Feld festzuhalten und die bisherigen Ergebnisse in der Galerie Son auszustellen, wurde ich auf das Projekt aufmerksam. Pizzini war da bereits mit anderen Projekten in Rotterdam gebunden, sodaß Martinelli mithilfe eines Assistenten fortfuhr. Nachdem wir in Kontakt kamen und er mir von Kamera und Idee erzählte, fassten wir den Entschluss, daß ich ihn ihm folgenden Sommer in Südtirol besuchen würde, um ihn als sein Gast und lerneifriger Assistent in den Dolomiten zu begleiten und mit dem Kubus zu arbeiten.
Der Wecker riss mich an jenem Morgen früher als gewohnt aus dem Schlaf. Es war sechs Uhr dreißig, höchste Zeit aufzustehen und nach einer Katzenwäsche noch einmal den Inhalt des Rucksacks zu prüfen. Ehe es dazu noch kam, klingelt es auch schon. Martinelli stand vor der Türe. Es galt, keine Zeit zu verlieren, denn der Tag war noch frisch, die Luft lau, das Licht lind. Martinelli bat mich auf die Beifahrerseite seines Kombis; es war eng und beklemmend, denn von hinten stemmten die schweren Einzelteile des Kubus, all die dazugehörigen Apparaturen und das viele Werkzeuge gegen den Sitz.
So fuhren wir dann auch bald los, verließen St. Ulrich und steuerten auf das Sellajoch zu, so gradlinig man eben den verschlungenen Serpentinen bis hinauf zu diesem Hochgebirgspass folgen kann. Dort oben, so viel verriet mir mein fest entschlossener Gefährte, würde uns ein ganz besonderes Alpenmotiv erwarten, das er nicht nur aus seiner Zeit als Bergsteiger, sondern – selbstverständlich – auch als gebürtiger Südtiroler genauestens kenne. Ich solle nur abwarten, dann würde ich schon sehen, daß sich all das gelohnt habe. Denn an jenem sommerlichen Tag war ich Martinellis rechte Hand, sein Assistent, der ihm nicht nur beim Aufbau des widerspenstigen Kubus helfen, sondern später auch mit augurischem Weitblick über den Himmel wachen sollte, während er den Apparat aus seinem Innersten heraus steuern würde.
So kurvten wir also die Hänge des gewundenen Grödnertals entlang, passierten Wildwasserbäche und Nadelwälder, geröllgesäumte Felswände und hie und da mächtige Alteisfelder, die selbst die stechende Höhensonne vergeblich abzuschmelzen suchte. Der aus Meran stammende Martinelli schenkt alledem kaum Aufmerksamkeit, während meine staunenden Blicke da bereits so fest an das Fenster geheftet waren, daß es auch für meinen wachsam allen Hindernissen ausweichenden Sozius offensichtlich war, daß er es mit einem Flachländer zu tun hatte, der die bescheidenen Hügel seiner Heimat Kreuzberg und Schöneberg nannte.
So wäre es mir fast entgangen, daß sich vor uns langsam das Panorama lichtete, während das Tal weiter in die Ferne rückte und der Horizont vor uns zum Stillstand kam. Wer wie wir aus Südtirol kommend dem sich langsam aufrichtenden Pass folgt, wird an dieser Stelle zu seiner Linken vom mächtigen Sellamassiv mit seinem bis zu 3151m aufragenden Piz Boè und dem zerklüfteten Langkofel zu seiner Rechten flankiert. Nun hatten wir den Kamm des Sellajochs erreicht, doch die letzten Meter, so insistierte mein Begleiter, mussten wir schon zu Fuß gehen.
Denn hinter dem Grat erwartete uns ein Ausblick, der alles, was zuvor an meinem Fenster vorbeirauschte, spielend in den Schatten stellte. Hier, auf 2240 Meter über dem Meeresspiegel, führt das Sellajoch aus dem Südtiroler Grödnertal hinüber ins Trentino: Wer den anstrengenden Weg bis auf die Höhe des Passes auf sich nimmt, wird mit einem weiten Blick über das Fassatal und seinen dolomitischen Gebirgsformationen belohnt: Hier erheben sich das Col Rodella sowie, weiter im Südosten, auf voller Breite die Marmolata, deren Gletscher den Wanderer bei gutem Wetter bereits aus der Ferne wie ein funkelndes Juwel begrüßen. Der Alpenpass trägt viele Namen: “Sellajoch” (deutsch), “Passo Sella” (italienisch), sowie in den hiesigen Volkssprachen “Jëuf de Sella” (grödnerisch-ladinisch) und “Jouf de Sela” (fassanisch-ladinisch). Auf dem Sellajoch eröffnet sich vom Norden her erstmals der Blick auf das Kerngebiet der Dolomiten, deren charakteristischen gräulich-apricotfarbenen Kalkformationen im Sonnenschein weithin sichtbar matt funkeln, die gesamte Landschaft in ein magisches Licht tauchen. Der Ausblick hätte herrlicher nicht sein können; da vergisst man schnell, daß es trotz des strahlenden Sonnenscheins sehr kalt sein kann.
Nachdem wir den Ausblick ausgiebig genossen hatten, wandten wir uns jedoch zurück, dem Langkofel zu. Dessen steil abfallende Südwand flankiert hier das Sellajoch, von wo aus wir ein Stück zurückfuhren, um schließlich den Kubus auf einer Alm vor dem bizarr anmutenden Ensemble aus drei der sieben zackig aufragenden Gipfel – der Grohmannspitze, Füffingerspitze und Langkofeleck – zu positionieren. Hier, am Fuße des dolomitischen Gesteinskolosses, hielt bisher jeder Wanderer inne, um seine Blicke mehr als neunhundert weitere Meter bis auf eine Gesamthöhe von 3181 Metern ehrfürchtig empor klettern zu lassen. Seine zerklüftete Steilwand erscheint porös und brüchig, als könne jeden Moment ein großer Brocken des pastellfarbenen Gesteins abbrechen und auf seinem Weg zum Tal Boden und Bäume mitreißen.
So ertappt man sich dabei, die Felswand nach besonders fragil scheinenden Stellen abzusuchen, und bemerkt schnell, daß vor dem Langkofel eine größere Anzahl oftmals etliche Meter hoher Felstrümmer herumliegt, als habe ein Riese hier seine Spielzeugmurmeln vergessen. Die Bewohner des Grödnertals kennen dieses Geröllfeld unter dem ehrfürchtigen Namen der “steinernen Stadt”; Besucher schätzen es für seine vielfältigen Klettermöglichkeiten. Martinelli erzählte mir von seinen unzähligen Klettertouren in diesem Gebiet, während wir nur einen Steinwurf entfernt mit der Errichtung des Kubus begannen. Es galt, keine Zeit zu verlieren, schließlich baut man einen solchen Koloss nicht so schnell wie ein Ikea-Regal auf.
Zwei Meter Kantenlänge, voll verspiegelt, hochglanzpoliert. Zwei dieser Kuben haben Martinelli und Pizzini angefertigt, einen aus Edelstahl und eine Leichtbauvariante: ein Aluminium-Gestänge, das allseitig mit Alu-Dibond verkleidet eine bessere Transportfähigkeit als auch erhöhte Widerständigkeit gewährleistet. So bereist also der eine Kubus die Galerien, während sein leichtes Gegenstück durch die Landschaften Europas streift. Nur aus der Nähe könnte man den Unterschied erkennen, aber das war hier draußen nicht so wichtig. Denn was zählte, war, daß wir den Aufbau schnell hinter uns brachten, um nicht wegen plötzlicher Wetterkapriolen bald schon wieder alles abbrechen zu müssen. Martinelli hatte mich gewarnt: Hier oben auf 2240 Metern Höhe seien Wetterumschwünge keine Seltenheit. Erst eine Woche zuvor hatte er ebenfalls am Sellajoch seinen Kubus in Position gebracht, da hatte noch dichter Schnee das Land bedeckt. Die bizarren Zacken des Langkofel hatten wolkenumhüllt vor dem Sellajoch aufgeragt, davon zeugte noch das Foto; heute jedoch schien dieser unheimliche Anblick in weiter Ferne, denn der Berg zeigte sich so freundlich und einladend, als hätte er gewusst, daß er heute erneut vor der Kamera stehen würde.
Freilich wollten wir unser Glück aber auch nicht auf die Probe stellen, bauten also zügig den Kubus auf, der zwar kein wuchtiger Stahl‑, aber immerhin doch ein störrischer Aluminiumkoloss war. Martinelli und Pizzini hatten ihn einst auf dem Reißbrett entworfen und im Eigenbau zusammengezimmert. Zu Transportzwecken entwickelten sie ein modulares System, dessen robuste Steckverbindungen zwar selbst in schwierigem Terrain noch zuverlässig arbeiteten, aber dennoch die gemeinsame Kraft zweier Männer erforderten, damit der Würfel auch bei widrigstem Wetter nicht wie ein Kartenhaus in sich zusammen fiele. Eine Seite blieb an diesem Tag jedoch ausnahmsweise frei. Hier spannten wir mehrere Lagen einer speziellen Plane auf und setzten darin sorgsam das Objektiv ein, das als einzige Öffnung des sonst lichtdicht versiegelten Innenraumes den Kubus endlich zu dem machte, wofür wir ihn heute brauchten: zu einer mustergültigen Camera obscura, jener simplen Fotokammer, die als Archetypus aller Kameras gilt.
Ihre außergewöhnlichen Dimensionen erforderten schließlich auch ein außerordentliches Objektiv: ein Nikon Apo-Nikkor, dessen komplizierte Konstruktion aus vier Elementen in vier Gruppen nach der Bauart eines doppelten Gauß-Objektives eine Brennweite von enormen 890mm bei einer minimalen Blende von eins zu elf ermöglicht. Das im Durchmesser mehr als fünfzehn Zentimeter mächtige, achtzehn Kilogramm schwere Objektiv bildet das Motiv auf einer Fläche von fast eineinhalb Quadratmetern ab, was ihm in einer so herausragenden Präzision gelingt, daß es in der Druckindustrie für die hochoriginalgetreue Reproduktion im Maßstab 1:1 eingesetzt wird. Es entspricht als ein sog. apochromatisches Linsensystem einer besonderen Güteklasse, die die bei diesen Dimensionen unweigerlich auftretenden Abbildungsfehler ausgleicht, bei dem Licht unterschiedlicher Wellenlänge verschieden stark gebrochen würde.
Bei kleineren Brennweiten fällt dieser physikalische Effekt kaum ins Gewicht, doch in dieser erheblichen Größenordnung hätte er zur Folge, daß deutliche Farbverschiebungen aufträten, die als unscharfe und farbgesäumte Kanten störend auffielen. Martinelli greift schließlich auch auf ein solch ungewöhnliches Objektiv zurück, um damit Fotografien zu erstellen, deren Format sonst nur digital am Computer nachgeahmt werden könnten. Ein mal ein Meter misst sein spezielles Fotopapier, auf dem, wenn denn alles glückt, ein gestochen scharfes, äußerst detailreiches Bild entsteht. Dazu braucht es jedoch eine minutiöse und exakte Vorbereitung, denn aus der ausgeprägten Telecharakteristik des Objektivs folgt auch, daß der Schärfebereich der Bilder äußerst klein ausfällt: Abhängig von der Entfernung des Motivs, ist dieser Bereich bei einer Blende von 1:11 durchaus gerade einmal einen Zentimeter breit, weshalb Martinelli zumeist eine Blende von 1:16 verwendet.
Eine größere Blendenzahl erfordert auch eine längere Belichtungszeit. Bereits der Wechsel von 1:11 auf 1:16 zieht eine Verdopplung der Belichtungszeit nach sich. So kann er den Schärfebereich für die meisten Motive auf immerhin knapp fünfzig Zentimeter vergrößern, obgleich immer noch die geringsten Fehler dazu führen, daß das Motiv in milchiger Unschärfe versinkt. Einige hundert Euro wären dann allein an Materialkosten verloren, weitere Aufwendungen für Planung und Anfahrt ebenfalls vergebens. Doch diese extreme Schärfeverteilung ist es auch, mit der Martinelli interessante Effekte gezielt erreichen kann, etwa wenn das Porträt eines Pärchens vor einer saftig grünen Alm (“Harry und Nicole”, 2012) bereits nach wenigen Zentimetern in einen diffusen Vorder- und Hintergrund übergeht.
Diese außergewöhnliche Schärfecharakteristik ist jedoch nur ein Erschwernis unter vielen, die letztlich dazu führen, daß nur jede dritte Fotografie Martinellis Ansprüchen gelingt. Die Aufnahme eines Bildes muss daher unter maximal kontrollierten Bedingungen erfolgen. Zunächst wird das Motiv im Leerlauf fokussiert, das heißt, bei offenem Verschluss und ohne eingelegtes Fotopapier wird mithilfe der jetzt schon sichtbaren Projektion das Abbild genau scharf gestellt. Ferner muss mit einem speziellen Gerät die Temperatur des Umgebungslichtes gemessen: Ist es besonders kalt, weist also einen starken Blauanteil auf, muss ein besonderer Farbfilter die warmen Anteile verstärken. Nach dem all dies sorgsam überprüft wurde, verschwand Martinelli im Kubus, verschloss ihn wieder lichtdicht und wartete auf meine Kommandos. Schließlich entschied die Menge des einfallenden Lichtes darüber, welche Belichtungszeit Martinelli wählen musste – zwischen fünf Sekunden und vierzig Minuten kann es dauern, ehe ein Foto im buchstäblichen Kasten ist.
Angesichts einiger Wolken über uns erwies sich diese Aufgabe jedoch schwieriger, als zunächst gedacht. So war es meine Aufgabe, mit einem hoch präzise arbeitenden Belichtungsmesser kontinuierlich die Ausleuchtung des Langkofels zu bestimmen, während ich stets den Himmel über uns im Blick hielt, um aus den Bewegungen der Wolken zu schließen, wann der günstige Augenblick gekommen sei. Zwischenzeitlich kamen einige Wanderer vorbei, beäugten neugierig mein Treiben. Es muss skurril gewirkt haben, konnte ich ihnen doch auch nicht mehr als das Wenige erklären, was ich wissen musste, um die Ausleuchtung des Langkofels beurteilen zu können. Nach einigen Minuten war es dann auch so weit, ich gab das Kommando zum Auslösen und nach einer knappen Minute war auch schon alles vorbei. Doch die wahre Magie blieb mir hier draußen verborgen, denn die spielte sich im Kubus und vor allem auf dem Fotopapier ab.
Martinelli benutzt ein besonderes Papier, das auf einer Bildfläche von etwas mehr als ein mal ein Meter im Positivverfahren direkt belichtet werden kann. Daher kann keine Aufnahme reproduziert werden, ist jedes Foto ein Unikat. Der Entwicklungsprozess Ilfochrome P‑3 ist vergleichsweise teuer und langwierig, seine Chemikalien sind weniger haltbar. Martinelli führt ihn noch durch und benötigt zur Entwicklung eines Fotos drei Stunden. Großlabore bieten diesen Prozess daher gar nicht mehr an, greifen auf digitale Scan- und Druckverfahren zurück und nehmen somit einen deutlichen Qualitätsverlust in Kauf. Da Martinelli direkt belichtet, kann er diese Zwischenschritte einsparen und dadurch diese außergewöhnliche Bildqualität erzielen. Das spezielle Ilfochrome-Papier zeichnet sich aber auch durch eine leuchtende Farbbrillianz aus, die kaum ein anderes Papier, auch kaum ein Foto- und nur wenige Diafilme erzielen können. Dank seiner außerordentlich hohen Beständigkeit von mehr als dreihundert Jahren kann es diese Medien auch nach archivarischen Gesichtspunkten spielend übertrumpfen, weshalb es gerade für künstlerische Anwendungen hervorragend geeignet ist. Daher ist Ilfochrome vor allem bei Künstlern gefragt, die es wie Martinelli direkt oder im herkömmlichen Negativverfahren gebrauchen.
Diese herausragende Qualität erhält das Ilfochrome-Papier im Gegensatz zu üblichen Filmen und Papieren durch das Silberfarbbleichverfahren, für das drei Farbschichten auf einem kartonartigen Trägermaterial aufgetragen sind. Im unbelichteten Zustand ist das Papier noch schwarz, erst durch einfallendes Licht werden diese Schichten je nach farblicher Zusammensetzung langsam ausgeblichen und abgetragen. Im Inneren des Kubus kann man daher von der ersten Sekunde an beobachten, wie das Motiv faktisch aus dem Nichts erscheint. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, das Bild male sich von selbst, wobei es auf molekularer Ebene eher der bildhauerischen Bearbeitung von Silberkristallen gleicht, die erst chemisch abgebaut, später im Labor mit Säuren ausgewaschen werden.
Doch der Eindruck des wie von Geisterhand entstehenden Bildes trügt. Denn selbst wenn im Inneren des Kubus die Belichtung des Papiers begonnen hat, kann noch alles mißlingen. Das Ilfochrome hat die launische Eigenschaft, aber einer Belichtungszeit von etwa fünf Minuten zunehmend cyan-stichig zu werden. Der zunehmende Pigmentabbau in den oberen gelben und magentafarbenen Schichten führt nach einer gewissen Zeit schließlich dazu, daß energiearmes, langwelliges, sprich: rotes Licht zunehmend daran gehindert wird, bis zur untersten, cyanen Schicht vorzudringen. Martinelli muss diese Tonverschiebung daher mit verschieden stark gefärbten Filtern ausgleichen. Die Verwendung solcher Filter ist jedoch wiederum mit einer längeren Belichtungszeit verknüpft, was für weiteres Kopfzerbrechen sorgt.
Allerdings hatten wir an diesem Sommertag mit dem Langkofel ein dankbares Motiv ausgewählt, das im Gegensatz zu manch einem Porträtierten ganz still und ruhig innehielt. Bei den langen Belichtungszeiten, die im Kubus notwendig werden, kann es schnell zu Verwacklungen kommen, weil ein Motiv nicht stillhalten kann. So zeigt sich etwa bei dem Porträt von “Harry und Nicole”, daß Nicoles Körper von einer diffusen Verwacklungsunschärfe überzogen ist, während der ganzkörpergelähmte Harry in voller Schärfe zur Abbildung kommt. Was zwar in diesem Falle eine interessante Überraschung war, blieb uns jedoch an diesem Tag aus offenkundigen Gründen glücklicherweise erspart.
Martinelli war zuversichtlich, daß sich das eben geschossene Foto als zufriedenstellend erweisen würde. So verzichtete er auf einen weiteren Versuch, verstaute die Aufnahme sorgsam in seine lichtdichte Kapsel, ehe er blinzelnd aus der Camera herauskroch. Zum Abschluß schossen wir noch einige Foto vom Kubus, schließlich gehört zu jeder Aufnahme ein weiteres Bild, daß die Situation dokumentiert.
Der Arbeitstag mit dem Kubus ging schneller zuende als gedacht. Einige Tage später trafen wir uns in St. Ulrich wieder – Martinelli und Pizzini luden zu der Eröffnung ihrer Ausstellung “Still Life”, die einige der in den letzten Jahren gewonnenen Aufnahmen versammelte. Obgleich das Bergdorf nur wenige Tausend Einwohner zählte, war die Ausstellung doch fast besser besucht als manch eine Berliner Vernissage. Das Foto vom Langkofel, das Martinelli in der Woche zuvor noch bei dichtem Schnee anfertigte, wurde ebenso gezeigt wie jenes vom Tempelhofer Feld.
Nachdem wir uns zuvor fast nur über technische Details unterhielten, fragte ich Martinelli bei dieser Gelegenheit, wo der Kubus als nächstes aufgebaut, wie viele Fotos noch folgen würde. “Nicht mehr viele”, eröffnete er mir. Denn die Produktion des überaus teuren Ilfochrome-Papier wurde vor zwei Jahren wegen gesunkener Nachfrage eingestellt – Martinelli und Pizzini konnten sich damals einige der letzten Exemplare dieses Sonderpapiers im Sonderformat sichern. So lange wie kein anderer Hersteller die Produktion dieses absoluten Nischenprodukts wieder aufnimmt, wird dieser Vorrat reichen müssen. Sonst wird der Kubus vielleicht eines Tages seinen letzten Einsatz im Hochgebirge gehabt haben.
Dieser Artikel erschien erstmalig am 28. Juli 2013 bei Castor & Pollux.